Dagmar Pitters: Schwangerschafts-Tests zu „Down-Syndrom“ berühren zentrale Fragen unseres Zusammenlebens
Seit einem Jahr finanzieren die Krankenkasse einen Bluttest, der Hinweise auf ein Downsyndrom des Kindes liefern soll. Wenn der Test positiv ausfällt – was dann? Dagmar Pitters, Vorsitzende Lebenshilfe Lüneburg e.V., hat vier erwachsene Kinder, davon zwei mit Behinderung. Sie wünscht sich mehr Begleitung und Stärkung für die Eltern. Die ethischen Fragen rund um die Tests sollten breit diskutiert werden. „Was maßen wir uns also an, wenn wir diejenigen aussortieren wollten, die nicht in unsere Vorstellungen passen?“, fragt sie.
Mitteilung von: Lebenshilfe Lüneburg-Harburg gemeinnützige GmbH – Am: 26.06.2023
Online: https://www.lhlh.org/
Trisomie 21: „Tests berühren zentrale Fragen unseres Zusammenlebens“
Seit einem Jahr, seit dem 1. Juli 2022, finanzieren die Krankenkassen einen Bluttest bei Schwangeren, der Hinweise auf ein Down-Syndrom des Kindes liefern soll.
Die Bundesvereinigung Lebenshilfe befürchtet, dass der gesellschaftliche Druck, ein gesundes Kind zur Welt zu bringen, dadurch größer wird. Menschen mit Beeinträchtigung würden als „vermeidbar“ und nicht willkommen gesehen. Außerdem öffne sich die Tür für zahlreiche weitere Tests vor der Geburt.
Dagmar Pitters, erste Vorsitzende Lebenshilfe Lüneburg e.V., hat vier erwachsene Kinder, davon zwei mit Behinderung. Sie plädiert dafür, Eltern in dieser Frage stärker zu begleiten und zu beraten. Die ethischen Fragen rund um die Tests sollten breit diskutiert werden.
Dagmar Pitters – Mutter von zwei Kindern mit Behinderung – im Interview
Die 61-Jährige aus Deutsch Evern ist Sozialpädagogin und Supervisorin, sie arbeitet als Trauma-Coach und gesetzliche Betreuerin.
Wie stehen Sie zum Bluttest auf Down-Syndrom während der Schwangerschaft?
Dagmar Pitters: Ich bin nicht gegen frühzeitige Untersuchungen. Aber es kommt auf die Motivation an. Machen Eltern den Test vor allem deshalb, weil sie die Erwartung spüren, sie müssten ein gesundes, „normales“ Kind zur Welt bringen? Ich hatte schon Mütter in der Beratung, die ihr Kind mit Down-Syndrom lieben. Aber von anderen bekommen sie zu hören: „Das hätte man heutzutage doch vermeiden können.“
Daran zeigt sich: Die Tests berühren zentrale Fragen unseres Zusammenlebens. Darüber müssen wir sprechen. Und zwar, ohne die Gemüter zu spalten, ohne persönliche Vorwürfe. Die individuelle Entscheidung für oder gegen einen Test müssen wir respektieren.
Druck zu Schwangerschaftsabbruch?
Was befürchten Sie, wenn Tests auf Behinderung immer üblicher werden?
Dagmar Pitters: Eltern können sich dann kaum noch entziehen. Und natürlich werden sie überlegen, ob sie bei Anzeichen von Behinderung die Schwangerschaft abbrechen.
Dabei hat jeder Mensch das gleiche Recht, auf der Welt zu sein, auch mit Beeinträchtigung und unabhängig von irgendwelcher Leistung. Was maßen wir uns also an, wenn wir diejenigen aussortieren wollten, die nicht in unsere Vorstellungen passen? Da würden grundlegende Werte verloren gehen.
Über 95 Prozent der Behinderungen entstehen durch Unfälle und Erkrankungen
Ihr erstes Kind war von Geburt an behindert. Was bedeutete das für Ihre zweite Schwangerschaft?
Dagmar Pitters: Erst mal vorab: Die wenigsten Behinderungen sind angeboren. Die allermeisten, über 95 Prozent, entstehen später im Leben, etwa durch Unfälle oder Erkrankungen. Trotzdem prägt es natürlich, wenn das erste Kind behindert ist.
Ich habe in der zweiten Schwangerschaft Mitte der 1990er-Jahre eine Fruchtwasseruntersuchung machen lassen. Sie ergab nichts Auffälliges, kein Anzeichen für eine Behinderung. Die Schwangerschaft verlief wunderbar, die Geburt auch. Doch nach einiger Zeit zeigten sich bei unserer Tochter Wachstumsstörungen. Schließlich stellte ein spezialisierter Arzt einen seltenen Gendefekt fest, das Williams-Beuren-Syndrom (WBS).
Tests erfassen nicht alle Behinderungen
Das war von der vorgeburtlichen Untersuchung also gar nicht erfasst worden?
Dagmar Pitters: Ja, und ich bin im Nachhinein froh und dankbar, dass es so war. Es hätte die Schwangerschaft enorm belastet. „Gnomenhafter Wuchs“, „Risiko eines schweren Herzfehlers“, das waren die Schlagworte, die Eltern bei WBS damals zu hören bekamen. Ich hätte unter Schock gestanden und das gar nicht einordnen können.
Heute weiß ich: Der Grad der Behinderung bei WBS ist sehr unterschiedlich – von schwerer Mehrfachbehinderung bis hin zu relativ geringer Beeinträchtigung. Vor der Geburt lässt sich das nicht erkennen. Für mich unvorstellbar, wenn ich damals aufgrund einer WBS-Diagnose die Schwangerschaft abgebrochen hätte.
Beim dritten und vierten Kind gegen Test entschieden
Unsere Tochter ist jetzt 27, sie führt ihr Leben, ist in der Werkstatt der Lebenshilfe beschäftigt, spielt dort unter anderem in einer Theatergruppe mit. Das alles ist möglich – mit WBS. Beim Down-Syndrom ist es ähnlich.
Auch da ist der Grad der Beeinträchtigung vorher nicht abzusehen. Wir haben uns beim dritten und vierten Kind jedenfalls gegen weitere Tests in der Schwangerschaft entschieden. Und ich kann heute sagen: Ich habe die wunderbarsten Kinder der Welt, alle vier! Ich bin glücklich und stolz und es ist genau richtig so.
Bessere Beratung für werdende Mütter gefordert
Die Lebenshilfe hat ihre bundesweite Kampagne zum Pränatal-Test unter das Motto gestellt: „Ja zur Vielfalt des menschlichen Lebens!“ Sie fordert mehr Aufklärung über das Leben mit Beeinträchtigung und bessere Beratung rund um die vorgeburtlichen Untersuchungen. Das unterstützen Sie?
Dagmar Pitters: Voll und ganz. Bei den Vorsorge-Untersuchungen in den Arztpraxen kommen viele Fragen von Eltern zu kurz, auch zu den vorgeburtlichen Tests. Verstärkte Beratung ließe sich zum Beispiel bei den Hebammen andocken, die dann allerdings auch entsprechend bezahlt werden müssten.
Ich wünsche mir generell mehr Begleitung und Stärkung für Eltern, damit sie mit Krisen aller Art kompetent umgehen können, nicht nur in der Schwangerschaft. Und ich wünsche mir, dass dann mehr Menschen den Mut haben, sich dahin zu bewegen, wo es bunt ist.
Information: Initiative im Bundesrat
Der nicht invasive Pränataltest ist ein Bluttest, mit dem sich in der Schwangerschaft kindliches Erbgut auf die Trisomien 13, 18 und 21 untersuchen lässt. Diese Trisomien sind seltene genetische Veränderungen, die die körperliche und geistige Entwicklung unterschiedlich beeinflussen. Am bekanntesten ist die Trisomie 21 (Down-Syndrom).
Weiterlesen: Gesundheitsinformation.de – https://www.gesundheitsinformation.de/bluttest-auf-trisomien-nicht-invasiver-praenataltest-nipt.html
Der sogenannte Nicht-Invasive Pränatal-Test (NIPT) könnte nicht nur – wie vorgesehen – in Einzelfällen eingesetzt werden, sondern sich schnell zur Regeluntersuchung in der Schwangerschaftsvorsorge ausweiten.
Das Land Bremen hat im Mai eine Initiative im Bundesrat gestartet. Ziel ist, mehr über den Einsatz der Trisomie-Bluttests zu erfahren. Etwa ob Frauen ausreichend beraten werden oder ob sie sich jetzt eher zu einem Schwangerschaftsabbruch entschließen. Auch ethische Fragen sollen bewertet werden. Der Antrag wird derzeit in den Ausschüssen beraten.
Mehr Information und Kontakt
Die Lebenshilfe Lüneburg-Harburg gGmbH unterstützt Menschen mit Behinderung in jedem Alter – vom integrativen Kindergarten über Wohnungen und Werkstätten bis zu Freizeitangeboten für Kinder und Jugendliche oder Tagesangeboten für Senior*innen. Dafür braucht es viele helfende Hände. Wer ehrenamtliche Unterstützung leisten will, ist willkommen.
- Lebenshilfe Lüneburg-Harburg: https://www.lhlh.org/
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„ “Was maßen wir uns also an, wenn wir diejenigen aussortieren wollten, die nicht in unsere Vorstellungen passen?”, fragt sie.“
Was maßen wir uns an, wenn wir Eltern hierzu Vorschriften machen wollen? Als Vater oder Mutter möchte ich, dass mein Kind ein bestmögliches Leben in Selbstständigkeit führen kann. Mit einer Behinderung ist das objektiv nicht auf dem Niveau nicht-Behinderter möglich. Hier müssen Eltern das dann selbständig entscheiden können dürfen. Niemand anders.
Ja – Pitters sagt ausdrücklich: „Die individuelle Entscheidung für oder gegen einen Test müssen wir respektieren.“