Barrierefrei Bahnfahren – etwa so?? Unterwegs im ICE 1576
Als Rollstuhlfahrerin ist die Sprecherin von Lüneburg Barrierefrei, Cécile Lecomte, öfter mit der Bahn unterwegs. Für Bahn und Polizei absolut beschämend ist, was die Lüneburgerin bei ihrer letzten Bahnfahrt am 1. August 2022 in Göttingen erleben musste.
Mitteilung von: Lüneburg Barrierefrei
Am: 10.08.2022
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Foto: C. Lecomte. Screenshot aus Handyvideo der Begleitung.
Barrierefrei Bahnfahren – Rauswurf inklusive
Ein schockierendes Video macht dieser Tage die Runde: Eine Lüneburger Rollstuhlfahrerin wird am 1. August 2022 in Göttingen von Polizisten an Händen und Füßen aus dem ICE 1576 geschleift (YouTube: https://www.youtube.com/watch?v=abNIuSk2uPs). Hier der Bericht der Initiative Lüneburg Barrierefrei, deren Sprecherin Cécile Lecomte ist, über den Vorfall.
Was war geschehen?
Am Montag, 1. August 2022, stieg die Lüneburger Rollstuhlfahrerin Cécile Lecomte mit ihrer Begleitperson in Darmstadt ein in den ICE 1576 von Karlsruhe Hbf nach Kassel-Wilhelmshöhe. Sie wollte über Göttingen und Hannover zurück nach Lüneburg fahren.
Bahnfahrten im Rollstuhl erfordern viel organisatorische Vorbereitung. Die Reise muss mindestens 24 Stunden vorher bei der Mobilitätsservice-Zentrale (MSZ – https://www.bahn.de/service/individuelle-reise/barrierefrei) angemeldet werden, um Hilfe beim Ein-, Um- oder Aussteigen zu erhalten – zum Beispiel einen Hublift für den Rollstuhl. Im Vorhinein müssen Anreise, Abholung und Begleitung organisiert werden. Bei der Kommunikation mit dem Mobilitätsservice erhält man die Antworten oft verspätet, in Darmstadt war wegen Personalmangel keine Umstiegshilfe möglich. Trotz dieser Hürden war es gelungen, die Fahrt im Vorfeld zu organisieren.
Rollstuhlplatz im Zug zu schmal
Bis Kassel war die Fahrt zunächst entspannt. Der Zug war nur mäßig besetzt. Im ICE T ist der Rollstuhlplatz baulich leider direkt vor der Schiebetür angeordnet und zu schmal. Das bedeutet, dass Menschen mit Koffer kaum vorbeikommen und man im Rollstuhl von Vorbeigehenden angerempelt wird.
Deshalb stellte Frau Lecomte ihren Rollstuhl neben das WC. Dort ist für andere Passagiere und Gepäck genügend Platz. Das wurde bis Kassel auch nicht beanstandet.
Aufgrund von Schmerzen: Lagerung auf dem Boden des Rollstuhlplatzes
Weil sie behinderungsbedingt Schmerzen in der Halswirbelsäule hatte, legte sie sich ausgestreckt auf den freien Rollstuhlplatz, die Füße unter dem Sitz und dem Tisch ausgestreckt. Ein andere Möglichkeit zum Liegen gab es nicht.
Sie schlief, als eine Dame mit doppeltem Kinderwagen in Kassel einstieg. Ihr war – fälschlicherweise – am Bahnsteig mitgeteilt worden, dass der Platz für ihren Kinderwagen der Rollstuhlplatz sei.
Problem Doppelkinderwagen wird gemeinsam gelöst
Frau Lecomte und die Dame mit dem Kinderwagen arrangierten sich. Der große Kinderwagen hätte sowieso nicht auf den Rollstuhlplatz gepasst. Deshalb wurde er zunächst neben dem Rollstuhl abgestellt, so dass andere Passagiere vorbei konnten.
Die Dame ging mit ihren Kindern zum Fahrradwagen, um nachzusehen, ob dort vielleicht noch Platz war. In der Zwischenzeit passten andere Fahrgäste auf den Kinderwagen auf.
Schaffnerin: Lecomte soll Rollstuhlplatz frei machen für den Kinderwagen
Dann kam die Schaffnerin. Sie forderte Frau Lecomte auf, aufzustehen und den Rollstuhlplatz für den Kinderwagen frei zu machen. Frau Lecomte erklärte, dass sie Schmerzen habe. Außerdem sei sie nicht verantwortlich, dass die Dame mit dem Kinderwagen falsch informiert worden sei. Für den Kinderwagen müsse ein anderer Platz gefunden werden. Man arbeite bereits gemeinsam an einer Lösung, sie brauche nur kurz abzuwarten.
Doch die Auseinandersetzung eskalierte. Statt zu warten, drohte die Schaffnerin jetzt mit der Polizei. Frau Lecomte sei «unkooperativ» und habe daher ihr Recht mitzufahren, verwirkt. Frau Lecomte lehnte weiterhin ab, den Platz zu räumen.
Doppelkinderwagen wird untergebracht
Die Schaffnerin verschwand. Inzwischen kam die Dame zurück: Sie hatte herausgefunden, dass im Fahrradwagen noch Platz war. Bein nächsten Halt in Göttingen trugen Frau Lecomtes Begleitung und ein weiterer Fahrgast den Kinderwagen gemeinsam in den Fahrradwagen. Damit war das Platzproblem gelöst.
Schaffnerin besteht dennoch darauf: Lecomte muss den Zug verlassen
Doch die Schaffnerin bestand darauf: Frau Lecomte habe gegen die Beförderungsbedingungen verstoßen und nicht kooperiert. Man dürfe im Zug nicht auf dem Boden liegen. Es sei egal, auch wenn sie bereit wäre, sich wieder hinzusetzen – Frau Lecomte solle aufstehen und jetzt den Zug verlassen. Das Zugpersonal habe im Zug das Hausrecht.
Frau Lecomte stellte fest: Sie habe eine gültige Fahrkarte. Die Reise sei angemeldet. Sie könne den Zug nicht einfach spontan verlassen, weil sie vor Ort als Rollstuhlfahrerin keine Hilfe hätte. Der Mobilitätsservice mit der Hilfe zum Aussteigen für sie sei für Hannover bestellt.
Polizei schleift behinderte Kranke auf den Bahnsteig
Da kam auch schon die Polizei. Zwei Polizisten teilten mit: Warum Frau Lecomte den Zug verlassen solle, sei für sie ohne Belang. Die Schaffnerin habe das Hausrecht und sie würden ihre Anweisung ausführen.
Die beiden Männer stellten den Rollstuhl von Frau Lecomte auf den Bahnsteig, ohne ihn sachgerecht anzufassen. Dann forderten sie Frau Lecomte auf, aufzustehen. – Eine Gehbehinderte, die auf Hilfe und den Rollstuhl angewiesen ist!
Als sie der Anweisung nicht Folge leistete, schleiften die beiden Polizisten sie gewaltsam aus dem Zug. Frau Lecomte wurde dabei weder nach ihren Einschränkungen noch nach ihrer Erkrankung gefragt, auf Grund deren sie unter ständigen Gelenkschmerzen leidet. Zu diesem Zeitpunkt war der Begleiter von Frau Lecomte dazu gekommen und filmte die Szene mit seinem Handy.
Verzweiflung – aber Glück im Unglück
Völlig verzweifelt und unter Schock saß Frau Lecomte dann in ihrem Rollstuhl auf dem Bahnsteig. Wie sollte sie nun in Göttingen weiterkommen – ohne Ein- und Ausstiegshilfe? Zur Erinnerung: Der Mobilitätsservice muss mindestens einen Tag im Voraus bestellt werden.
Tatsächlich gibt es einen guten Ausgang: Der Zug, den Frau Lecomte in Hannover nehmen wollte, fuhr über Göttingen (ICE 786). Mit der Hilfe ihrer Begleitung und von hilfsbereiten Fahrgästen konnte sie einsteigen. Der verständnisvolle Schaffner wunderte sich, sie jetzt schon in seinem Zug zu sehen. Als sie sichtlich unter Schock und schmerzgeplagt von den Ereignissen berichtete, war er fassungslos.
Minus für die Polizei, doppeltes Minus für die Bahn
Die Ereignisse sind erschreckend. Niemand fährt aus Spaß mit dem Rollstuhl. Es geht gar nicht, mit Menschen mit Behinderung so umzugehen.
- Es gab keinen ernsthaften Anlass, Frau Lecomte aus dem Zug zu verweisen. Wenn moderne Züge (immer noch) nicht behindertengerecht eingerichtet sind, muss man zumindest Flexibilität gegenüber Fahrgästen mit besonderen Anforderungsprofilen zeigen.
- Was die beiden Polizisten betrifft: Mit Erkrankten so brutal umzugehen, ist ein Unding und kann Beschwerden erheblich verschlimmern. Ganz abgesehen von den psychischen Folgen einer solchen Behandlung.
- Erforderlich ist endlich eine barrierefreie Infrastruktur im öffentlichen Verkehr, mehr Unterstützung durch Personal und Schulung des Personals.
Zur Erinnerung für Bahn und Polizei – und Politik: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ steht in Artikel 3 unseres Grundgesetzes. Wie man sieht, sind wir davon traurigerweise noch meilenweit entfernt.
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Weitere Links
- Barrierefreie Bahn für alle – https://barrierefreiebahn.de
- refundrebel: Entschädigung bei Bahnbarrieren – https://www.refundrebel.com/
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