
„Inklusionstag“ in Lüneburg: Rollstuhlfahrer mit Gewalt aus Zug geworfen
Ein Fest für „Inklusion & Vielfalt“ ließ Lüneburg Marketing am 4. Mai 2025, am Tag vor dem Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (5. Mai), ausrichten. Was ein Rollstuhlfahrer, der dabei zu Gast war, auf der Rückfahrt erlebte, schildert Daniela Laudan, Vorsitzende des Behindertenbeirats. Ihr Bericht zeigt, wie weit wir immer noch von Gleichstellung entfernt sind.
Mitteilung von: Daniela Laudan, Behindertenbeirat für Stadt und Landkreis Lüneburg – Am: 07.05.2025
Online: https://www.behindertenbeirat-lueneburg.de/ – Foto: Lüne-Blog
I. Daniela Laudan: Warum Menschen mit Behinderung immer noch protestieren (müssen) …
Foto: Lüne-Blog. Ortstermin am Bahnhof Lüneburg am 3. Mai 2024: Information des Behindertenbeirats zum fehlenden Fahrstuhl. Wochenlang waren die Fahrstühle zu den Gleisen außer Betrieb. Mit viel Aufwand seitens des Behindertenbeirats und weiterer Unterstützung von Stadt und Politik gelang es, dass einigermaßen adäquate Ersatzlösungen geschaffen wurden.
Der 5. Mai wurde 1992 von der Initiative Selbstbestimmt Leben (ISL) als Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen ins Leben gerufen. Bereits 1993 wurde daraus ein europäischer Protesttag, an dem Menschen mit Behinderungen in ganz Europa für ihre Rechte und gegen Diskriminierung protestierten.
Fortschritte in der Gesetzgebung
Diese Proteste entfalteten in den vergangen 30 Jahren auch Wirkung. Meilensteine sind die Grundgesetzänderung 1994, nach der Menschen nicht aufgrund ihrer Behinderung benachteiligt und diskriminiert werden dürfen, das erste Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz von 2002 und die Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention von Deutschland im Jahr 2009.
Aber: Umsetzung im Alltag weit entfernt
Aber: Trotz aller Fortschritte sind Menschen mit Behinderungen noch immer nicht gleichgestellt. Zum größten Teil können sie noch immer nicht „am gesellschaftlichen Leben in vollem Umfang teilhaben“, wie es die Gesetzgebung eigentlich vorsieht.
Das Folgende hat sich am 4. Mai 2025 beim verkaufsoffenen Sonntag zum Motto „Vielfalt und Inklusion“ ereignet. Der Bericht von Daniela Laudan, Vorsitzende des Behindertenbeirats in Lüneburg, zeigt den Alltag von vielen Menschen mit Behinderungen. Video-Mitschnitte belegen ihre Darstellung.
II. Bericht vom Inklusionstag: Als Rollifahrer zu Gast in Lüneburg …
Ein junger Mann aus Nordrhein-Westfalen, im Rollstuhl unterwegs, reist mit der Bahn am Sonntag, 4. Mai 2025, mit der Bahn, nach Lüneburg. Der defekte Aufzug an einem Umsteigebahnhof auf der Hinfahrt lässt sich mit Hilfe von Mitreisenden überwinden. Der Mobilitätsservice der Bahn hat Zeit, beim Einstieg in den ICE zu assistieren. Das ist schon eher die Ausnahme beim spontanen Reisen mit der Bahn, wenn man im Rollstuhl unterwegs ist.
Angekommen in Lüneburg ist der junge Mann beeindruckt, dass es ein Rollstuhl-Taxi gibt. Das gibt es in seiner Heimatstadt nicht. Er lässt sich in die Innenstadt zur Marktplatz fahren. Dort trifft er sich mit Bekannten, die einen kleinen Protestzug zum europäischen Protesttag machen wollen – mitten durch die Ausstellung der Hilfsorganisationen, die ihre Arbeit an diesem Tag präsentieren.
Schmerzhaftes Kopfsteinpflaster
Das Rollen über das Kopfsteinpflaster ist schmerzhaft für ihn. Er wundert sich: Die Aussteller am Rand des Marktplatzes haben ihre Stände auf den glatten Laufwegen aufgebaut. Diese Wege wären für Rollstuhl- und Rollatorfahrer*innen weniger schmerzhaft und anstrengend. Doch diese Wege sind damit verstellt.
Teilweise mit Kunststoffplatten überbrückt
Auf einer kurzen Strecke vor einem Stand der Lebenshilfe liegen Kunststoffplatten auf dem Kopfsteinpflaster. Die sind sehr angenehm zu befahren. Leider endet die Strecke nach etwa 20 Metern wieder. Ihm wird berichtet, dass die Sparkassenstiftung der Lebenshilfe vor kurzem 100 von diesen Platten gespendet hat und dass diese bei der Lebenshilfe auszuleihen sind. Warum die nicht überall auf dem Marktplatz liegen an einem Tag mit dem Motto „Vielfalt und Inklusion“? Keine Ahnung.
Start zur Weiterfahrt nach Hamburg
Nach vielen positiven Begegnungen und Gesprächen macht der junge Mann sich am späten Nachmittag wieder auf den Weg zum Bahnhof. Er will weiterfahren nach Hamburg. Denn dort ist am 5. Mai eine große Protestaktion in der Innenstadt angekündigt.
Am Bahnhof angekommen bittet er den Mobilitätsservice um Assistenz. Dieser lehnt ab: Hilfe ist nicht nötig, der nächste Zug nach Hamburg ist ein Metronom. Im Metronom gibt es einen speziellen Waggon für Rollstuhl- und Fahrradfahrende, der barrierearm zu befahren ist. Diese Information wäre für einen Auswärtigen sehr wichtig gewesen. Der junge Mann erhielt diese Auskunft jedoch nicht.
Wichtige Informationen werden nicht weitergegeben
Immerhin funktionierte der Aufzug zur Gleis 2/3 wieder! Der Bahnsteig ist voll. Leider zeigt die DB-App die Wagenreihung für Metronomzüge nicht an. Der Fahrradwaggon ist entweder der erste – oder aber der letzte Wagen. Wenn der Zug einfährt, heißt es daher: Am vollen Bahnsteig schnell in irgendeinen Wagen einsteigen, um mitzukommen. Als Rollstuhlfahrer ist das mühsam, denn die regulären Waggons sind nur über eine etwa 30 Zentimeter hohen Stufe erreichbar.
Einstieg trotz Hürden geschafft, doch der Zug ist voll
Der junge Mann ist erfahrender Bahnreisender und lässt sich von solch „kleinen Barrieren“ nicht aufhalten. Er rutscht aus seinem Rollstuhl auf den Boden, hievt seinen Rollstuhl vom Bahnsteig in den Wagen und rutscht hinterher. Es ist schon sehr voll, im Eingangsbereich stehen etliche Menschen. Der Rollstuhl samt jungem Mann passt noch so gerade eben hinein.
Und dann wird es sehr unangenehm: Ein Zugbegleiter hat den Vorgang bemerkt. Er kommt und fordert den jungen Mann nachdrücklich auf, wieder auszusteigen, da der Zug bereits voll ist.
Beförderungsrichtlinien regeln Mitnahme
Das hätte nun jedem Reisenden in einem überfüllten Zug passieren können. Allerdings besagt die Beförderungsrichtlinie des Metronom: „Mit Piktogramm gekennzeichnete Sitzplätze und Großraumbereiche sind schwerbehinderten Menschen, in der Gehfähigkeit beeinträchtigten (…) freizugeben“.
Weiter heißt es: „Wird der für die Fahrradmitnahme vorgesehen Platz für die Beförderung von Fahrgästen, insbesondere von Kindern im Kinderwagen und Rollstuhlfahrern benötigt, hat der Fahrgast mit Fahrrad keinen Anspruch auf die Fahrradmitnahme und muss das Fahrzeug gegebenenfalls umgehend verlassen und seine Fahrt mit einem nächsten Zug fortsetzen“. Das Fahrradabteil ist voll mit Fahrrädern.
Zugbegleiter: Rollstuhlfahrer soll den Zug wieder verlassen
Also: Der Angestellte hält sich nicht an die Beförderungsrichtlinien. Statt dem jungen Mann zu sagen, er solle doch in den Großraumwagen einsteigen, und er, der Zugbegleiter, würde für Platz sorgen, wenn es dort zu voll ist – will der Metronom-Angestellte den jungen Mann hinauswerfen.
Dieser will sich das verständlicherweise nicht gefallen lassen: Er wäre der Einzige, der wieder aussteigen müsste, und er hat Termine in Hamburg. Er empfindet es als Diskriminierung, dass ihm aufgrund seiner Behinderung bzw. seines Hilfsmittels die Mitfahrt verweigert wird. Und ja, es ist eine Diskriminierung: Ein Fußgänger hätte sich noch mit hineinquetschen können und niemand hätte etwas gesagt.
Es kommt zu Streit und Handgreiflichkeiten – Polizei wird gerufen
Eine hitzige Debatte entsteht, die sehr unfreundlich und zunehmend lauter verläuft. Der Zugbegleiter versucht schließlich, den jungen Mann aktiv aus dem Zug zu entfernen und greift nach seinem Rollstuhl. Dagegen wehrt sich der junge Mann. Er versucht den Angestellten daran zu hindern. Es entsteht eine Rangelei, bei der sich beide verletzen.
Dem Zugbegleiter gelingt es schließlich jedoch, den Rollstuhl aus dem Zug zu ziehen. Er wirft das Gerät mit voller Wucht auf den Bahnsteig. Dort bleibt der Rollstuhl kopfüber liegen, die Taschen darauf entleeren sich auf dem Asphalt.
Als der junge Mann sich immer noch weigert auszusteigen und den nächsten Zug zu nehmen, ruft das Zugpersonal die Bundespolizei zur Hilfe.
Polizei nimmt Anzeige auf – Rollstuhlfahrer muss aussteigen
Unter den Anwesenden am Einstieg in den Wagen greift niemand ein. Im Gegenteil: Passanten fordern den jungen Mann auf, endlich auszusteigen, er halte ja den ganzen Betrieb auf. Auch unfreundlichere Worte fallen.
Als die Polizeibeamten ankommen, erstattet der Schaffner sofort Anzeige gegen den jungen Mann wegen Körperverletzung. Die Beamten teilen dem jungen Mann mit, dass er nun Beschuldigter in einem Strafverfahren ist, umgehend den Zug zu verlassen hat, und damit auch kein Recht mehr auf Beförderung hat. Dieser folgt den Anweisungen der Polizei sofort und widerspruchslos.
Rollstuhlfahrer „stört den Betrieb“
Nur einer der drei Bundespolizisten bietet dem jungen Mann Hilfe beim Aussteigen an. Der Ton ist insgesamt rauh und unfreundlich. Der junge Mann wird als „Störer“ und „Gefahr für die Sicherheit“ bezeichnet. Nur weil er behindert ist, könne er keine „Extrawürste“ bekommen. Seine Sicht der Erlebnisse kann der junge Mann kaum darstellen. Er, der sich gegen Ungleichbehandlung wehrt, gilt als „Ärgernis“ und eine „Gefahr für die Sicherheit“.
Dabei stehen im Großraumwagen extra Rollstuhlplätze bereit
Niemand in dem ganzen Geschehen kommt auf die Idee, den jungen Mann einfach in den Großraumwagen mit den Rollstuhlplätzen einsteigen und mitreisen zu lassen. Und genau das ist einer von unzähligen Gründen, warum Protest noch immer dringend notwendig ist.
Nachttrag: Wie sich im Nachhinein herausstellte, stand der Rollstuhlfahrer sogar am „richtigen“ Wagen, also am Großraumwagen mit den Rollstuhlplätzen. Der Zugbegleiter weigerte sich jedoch von vorneherein, die Rampe vom Zug auszufahren, da der Zug schon voll sei.
Kein Einzelfall … Protest bleibt notwendig
Immerhin gibt es einen guten Ausgang: Als er sich von dem Schreck und den Schmerzen etwas erholt hatte, konnte der junge Mann mit dem nächsten Zug, einem ICE, störungsfrei nach Hamburg fahren.
„Wer glaubt, das sei ein Einzelfall, den muss ich leider enttäuschen. Allein auf der Strecke Lüneburg-Hamburg liegen uns vier weitere negative Erfahrungsberichte von Menschen mit Behinderungen mit der Metronom Eisenbahngesellschaft aus den letzten Monaten vor. Hier liegt ein strukturelles Problem vor“, so Behindertenbeauftragte Daniela Laudan abschließend.
Mehr Information und Kontakt
- Behindertenbeirat Lüneburg: https://behindertenbeirat-lueneburg.de
Telefon: 04131 309 3848 – E-Mail: info@behindertenbeirat-lueneburg.de - Behindertenbeirat Lüneburg: Daniela Laudan: Warum der Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung immer noch Protest braucht … (PDF-Datei)
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„Eins, zwei, drei – los!“ hieß es neben dem Marktplatz am Sonntag, 4. Mai 2025. Und Jüngere und Ältere starteten mit Rollator, Trolley oder Rollstuhl, um am eigenen Leib zu erfahren, wie sich das Kopfsteinpflaster anfühlt. „Damit hätte ich nicht gerechnet“, so ein Teilnehmer im Nachhinein. „Wie man da durchgerüttelt wird!“ Die AG Lüneburg zu Fuß fordert mit dieser Aktion mehr Barrierefreiheit im Straßenraum – einen „Neustart Inklusion“.
Lünepedia: AG Lüneburg zu Fuß
Die Arbeitsgemeinschaft Lüneburg zu Fuß ist ein 2023 entstandener Zusammenschluss verschiedener Vereine und Initiativen in Lüneburg, darunter ADFC, Behindertenbeirat, Blinden- und Sehbehindertenverband, FUSS e.V., Lebenshilfe und VCD.
Die Arbeitsgemeinschaft setzt sich dafür ein, dass dem Fußverkehr in Lüneburg mehr Aufmerksamkeit und Geltung verschafft wird. Dafür macht sie auf Barrierefreiheit aufmerksam und will Rücksichtnahme und ein gutes Miteinander fördern.
Weiterlesen: https://www.luenepedia.de/wiki/Lüneburg_zu_Fuß
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