VCD-Interview mit Prof. Dr. Pez: Per Einbahnstraße in die Zukunft?!
„Minimalinvasiv“, aber effektiv will Verkehrsgeograph Professor Dr. Peter Pez von der Leuphana Universität den Verkehr in Lüneburg nachhaltiger machen. Beitragen dazu sollen eine Handvoll Straßen, die abschnittweise als Einbahnstraßen umgewidmet werden. Dabei sollen alle Ziele weiterhin mit dem Auto erreichbar bleiben. Im Interview mit dem VCD Elbe-Heide stellt er sein Konzept vor.
Mitteilung von: VCD Elbe-Heide – Am: 08.09.2023
Online: https://niedersachsen.vcd.org/der-vcd-in-niedersachsen/elbe-heide Foto: Lüne-Blog
VCD-Interview mit Dr. Peter Pez: Per Einbahnstraße in die Zukunft?!
Foto: Lüne-Blog. Die Bleckeder Landstraße gehört zu der Handvoll Straßen, für die der Verkehrsgeograph Dr. Pez abschnittweise eine Einbahnstraßen-Lösung vorschlägt.
Lüneburg will in die Verkehrswende einsteigen. Dazu soll der Verkehrsentwicklungsplan (VEP) von 1990 durch einen Nachhaltigen Urbanen Mobilitätsplan (NUMP) abgelöst werden. Der Verkehrsclub Deutschland (VCD) Regionalverband Elbe-Heide interviewte dazu den Verkehrsgeographen Professor Dr. Peter Pez von der Leuphana Universität.
VCD: Herr Pez, Sie haben sich schon häufig zu Verkehr und Planung in Lüneburg geäußert, darunter erzeugte eine Einbahnstraßenidee vor zuletzt drei Jahren viel Aufmerksamkeit. Was hat es damit auf sich und wird die Idee in den NUMP einfließen?
Pez: Ja, diese Idee brachte ich erstmals 2017 in die Diskussion und dem Planungsbüro, das die NUMP-Entwicklung betreut, ist sie auch bekannt.
Kernproblem: Die Flächenknappheit
Im Kern geht es um das Problem der Flächenknappheit. Das drückt alle Städte. Mit einer Energie- und Antriebswende, also dem Elektro-Kfz, wird das nicht gelöst.
Innenstadtnah konzentrieren sich in Lüneburg Hauptverkehrsströme auf den Stadtring und die zuführenden Straßen. Einige dieser Straßen verlaufen innenstadtnah nahezu parallel.
Vorschlag: Einbahnstraßen einführen
Meine Idee ist, dort eine wechselseitige Einbahnstraßenführung einzuführen. Damit wird im Idealfall eine Fahrspur frei und die könnte als Umweltspur dem Bus- und Radverkehr übereignet werden – für beide sieht’s nämlich im Innenbereich ziemlich eng aus.
Die Einbahnstraßenführung gilt also nicht für den Umweltverbund. Da können Taxen gerne inbegriffen sein und ganz sicher auch Polizei, Feuerwehr, Krankenwagen und Entsorgungsfahrzeuge.
Auch wenn auf der entlasteten Spur also einiges an Restverkehr verbleibt, dürfte das für den Umweltverbund ein erheblicher Flächen-, Geschwindigkeits- und Komfortgewinn werden.
Welche Straßen könnten zu Einbahnstraßen werden?
VCD: Welche Straßen kommen als Einbahnstraßen infrage?
Pez: Folgende Straßen wären geeignet:
- Die Bleckeder Landstraße östlich bis Höhe Pulverweg bzw. Am Schützenplatz. Da wurde die Verkehrsführung durch baustellenbedingte Sperrungen faktisch schon erprobt, ohne dass der Verkehr zusammenbrach.
- Das gilt ebenso für die Soltauer Straße zwischen Stadtring und Heidkamp.
- In der Nachbarschaft kommen die Uelzener Straße und der Oedemer Weg bis Munstermannskamp und Heidkamp/Ringstraße infrage.
- Und auch „Auf der Höhe“ eignet sich, nur mit dem Unterschied, dass man dort wegen der Straßenenge und der Parkstände am Fahrbahnrand keine gegenläufige Umweltspur hinbekommt, sondern mit einer so genannten unechten Einbahnstraße vorliebnehmen muss. In dieser wäre Gegenverkehr von Linienbussen, Radverkehr und weiteren berechtigten Fahrzeugen per Beschilderung zugelassen.
Nachteilige Auswirkungen für den Pkw-Verkehr?
VCD: Ein häufig gehörtes Argument ist, dass mit solchen Maßnahmen Autofahrer und damit Innenstadtkunden vergrault werden.
Pez: Wenn man Einbahnstraßen flächig und mit eng beparkten Randstreifen ausweist wie in der östlichen Innenstadt Lübecks oder im großen Grachtenbereich von Amsterdam, dann erzeugt man einen Labyrintheffekt, der wirklich abschreckt. Das sehe ich hier überhaupt nicht.
Die Verkehrsleitung wäre neu, aber in sich klar, logisch und erst mal nicht langsamer für den Autoverkehr. Einbahnstraßen beschleunigen diesen eigentlich, weil Linksabbieger kaum noch auf Gegenverkehr warten müssen und Ampelsteuerungen für die Flussrichtung mit längeren Grünphasen geschaltet werden können.
Alle Ziele weiterhin mit dem Auto erreichbar – insgesamt eher Beschleunigung für den Autoverkehr
Wichtig ist die Gewähr, mit dem Auto weiterhin alle Ziele erreichen zu können. Im Gegensatz zur innerstädtischen Verkehrsberuhigung von 1993 rüttele ich daran überhaupt nicht.
VCD: Hatten Sie nicht auch den Stadtring in Einbahnführung ins Gespräch gebracht?
Pez: Stimmt, aber nicht als erste, sondern als letzte, allerletzte Maßnahme, um der Verkehrsflut Herr zu werden – wenn alles andere ausgereizt ist. Und auch dann nicht als vollständiger Einbahnring, sondern nur zu drei Vierteln im Norden, Westen und Süden.
Alpha-Lösung – entsprechend dem griechischen Buchstaben – auf dem Stadtring
Die Nord-Süd-Verkehrsachse westlich von Lösegraben und Ilmenau – also Schießgrabenstraße und Willy-Brandt-Straße – trägt die Hauptlast des Verkehrs. Hier wird Zweirichtungsverkehr nötig bleiben.
Denn große Teile des Stadtringes wären mengenmäßig zur Aufnahme von Verkehrsströmen, die dort kein Ziel oder keine Abzweigung finden, nicht geeignet.
VCD: Einrichtungsverkehr bis auf Schießgraben- und Willy-Brandt-Straße – diese Lösung erinnert an den griechischen Kleinbuchstaben alpha. Wie herum müsste die Einbahnrichtung geschaltet werden?
Pez: Das will ich ohne genauere Untersuchung noch nicht abschließend beurteilen, vermute aber, dass „gegen den Uhrzeigersinn“ sich anbieten würde. So fahren auch bereits die Stadtbusse.
Einzelne Straßen gezielt für den Durchgangsverkehr sperren
VCD: Sie betonten „allerletzte“ Maßnahme. Gibt es da noch etwas?
Pez: Ich denke auch an einzelne gezielte Sperrungen von Straßen für den Durchgangsverkehr. Es sind nicht viele, aber sie ergänzen das Konzept eines neuen Verkehrsleitungssystems.
Konkret handelt es sich um die Scharnhorststraße bei der Leuphana Universität und die Thorner Straße auf dem Kreideberg. Beide Straßen leiden unter viel Durchgangsverkehr, damit Lärm und Unfallrisiken. Bei der Scharnhorststraße macht der Durchgangsverkehr 45 Prozent, also fast die Hälfte, aus.
Weiterhin Durchfahrt für Linienbusse und Radverkehr
Für beide Straßen gibt es im Bestand Umfahrungen, die einst auch für diese Funktion vorgesehen waren und dementsprechend gebaut wurden, das sind Munstermannskamp und Ostpreußenring.
Sperrungen von Scharnhorst- und Thorner Straße würden es erlauben, dort Quartiersplätze für Begegnung und Aufenthalt zu gestalten bzw. aufzuwerten. Auch hier gilt aber, dass Linienbusse und Radverkehr weiterhin Durchfahrt behalten sollen, z. B. durch versenkbare Poller wie südlich der Uni in der Heinrich-Böll-Straße.
Absenkungsbedingt Sperrung wohl auch auf Teilen des Ochtmisser Kirchsteigs nötig
Eine weitere Straße kommt hinzu, weil ich damit rechne, dass in absehbarer Zeit senkungsbedingt Kraftfahrzeuge dort nicht mehr fahren können: Das ist der innenstadtnahe Teil des Ochtmisser Kirchsteiges.
Hier sollten wir vorausschauend denken, das Verkehrsgeschehen durchrechnen und langfristig verkehrsverlagernd planen.
Rechenmodelle für die Planung nutzen
VCD: Was meinen Sie mit „durchrechnen“?
Pez: Basis solcher Eingriffe ins Verkehrsgeschehen sind so genannte Verkehrsumlegungsberechnungen. Das erfolgt computermodellgestützt auf Basis von Verkehrszählungsdaten. Künftige Verkehrsströme durch Sperrungen und Einbahnstraßenausweisungen lassen sich so näherungsweise vorhersagen, das sollte man für die Planung nutzen.
Ich will es mal in Analogie zur Medizin formulieren: Ich verfolge zwar ein minimalinvasives Konzept, um zu heilen, aber es bleiben ja Eingriffe in stark frequentierte Verkehrsadern, da sollte man vorher den Ultraschall bemühen.
Was diese Rechenmodelle allerdings nicht leisten, sind Veränderungen in der Verkehrsmittelwahl vom Auto zu ÖPNV und Radverkehr vorherzusagen.
Stärkung des Umweltverbunds durch „minimalinvasive Eingriffe“
VCD: Gerade die wären für die Umweltpolitik besonders interessant. Kann der Umweltverbund gestärkt werden, wenn Sie die Autos minimalinvasiv gar nicht „vergraulen“?
Pez: Durchaus, denn die vorgeschlagenen Veränderungen sind für Bewohner:innen in der Innenstadt und wohl auch noch im ersten Vorortering deutlich spürbar.
Sie werden sich vermehrt fragen, ob sie ihr Ziel insbesondere mit dem Fahrrad nicht deutlich schneller erreichen können als mit dem Pkw. Das kann man meist heute schon. Doch dieser Effekt würde mit Umsetzung meiner Ideen zunehmen, der Reisezeitnachteil des Busses würde zumindest verringert werden.
Attraktivere Bahnverbindungen für weiter entfernte Gäste
Für Gäste aus größerer Entfernung würde sich jedoch reisezeittechnisch nur ganz wenig verändern, aufgrund klarer Verkehrsführung und besserer Ampelschaltung womöglich nicht einmal nachteilig.
Bei denen schafft man eine Verkehrsverlagerung nicht mit Verkehrsrestriktionen in der Stadt, sondern durch Attraktivierung der Autoalternative Bahn. Ich spreche von einer Taktintensivierung und Beschleunigung der Wendlandbahn und einer Reaktivierung der Bahnstrecken nach Bleckede und Amelinghausen/Bispingen/Soltau.
Einrichtung der Fußgängerzone in Lüneburg unter Erfolgsvorbehalt durchgeführt
VCD: Gibt es Vorerfahrungen, wie sich die Verkehrsmittelwahl verändert?
Pez: Nehmen wir Lüneburg selbst. Die erfolgreiche Verkehrsberuhigung der Lüneburger Innenstadt durch den Verkehrsentwicklungsplans VEP in den 90er Jahren stand unter Erfolgsvorbehalt: Der motorisierte Individualverkehr sollte sich dadurch um mindestens 25 Prozent verringern. Das wurde tatsächlich erreicht.
Grundlage für die Veränderung war eine experimentell ermittelte Verlängerung der Gehzeit vom Parkplatz zum Ziel beim Pkw von durchschnittlich gerade mal einer Viertelminute. Das war auf seine Weise bereits minimalinvasiv – doch mit erdrutschartiger Wirkung.
Vergleichbare Ausgangssituation heute
Wir stehen heute in einer sehr ähnlichen Situation wie zu Beginn der 1990er Jahre. Damals sorgten Wachstum bei Einwohnern und Kfz-Besitz für tägliches Chaos in der verkehrsdurchfluteten Altstadt, viele Unfälle, hohe Lärm- und Abgasbelastung.
Der VEP bescherte uns nicht nur eine erlebenswerte und wirtschaftlich belebte, tourist(inn)endurchflutete Altstadt, sondern eben auch deutlich weniger Autoverkehr.
VEP-Dividende durch starken Einwohnerzuwachs aufgezehrt
Nun kamen jedoch seit den 90er Jahren allein in Lüneburg 14.000 zusätzliche Einwohner:innen dazu, das ist ein Plus von 21,5 Prozent. Dazu addieren sich weitere Zuwächse in den Vororten. Folge: Das hat die VEP-Dividende aufgezehrt – und wir haben auf Zufahrtsstraßen und dem Stadtring wieder täglich Stausituationen.
Wie damals ist es nicht erfolgversprechend, dafür Straßen auszubauen. Denn das erhöht nur die Attraktivität des Autos, löst das Problem also nicht, sondern verstärkt es. Verkehrsminderung muss das Ziel sein.
Geringe Umwege für Pkw-Verkehr – Förderung für ÖV und Radverkehr
Einbahnstraßen, gekoppelt mit wenigen Netzunterbrechungen, führen zu geringen Umwegfahrten. Dabei springen gleichzeitig die Vorteile des davon nicht betroffenen Umweltverbundes schon sehr deutlich ins Auge. Das regt zum Überdenken der Verkehrsmittelwahl an.
Und je mehr Menschen das Auto stehen lassen, desto geringer werden Stauprobleme und Parkraumsuch-Aufwand. Man steht eben nicht hinter Radfahrenden und wenigen Bussen im Stau, sondern hinter zu vielen anderen Pkw. Hier muss man ansetzen, um nachhaltig und zukunftsfähig zu agieren.
VCD: Vielen Dank für das Gespräch, Herr Dr. Pez.
- VCD Elbe-Heide: Das ganze Interview zum Ausdrucken als PDF-Datei – mehr
Lünepedia: VEP
Von 1977 bis 1989 war Lüneburg ein „staatlich anerkanntes Kur- und Soleheilbad“. Diesen Titel verlor es, da die vom „Heilbäderverband“ festgelegten Grenzwerte für Feinstaub in der Luft rund um das Lüneburger Kurzentrum erheblich überschritten wurden. Die gestiegenen Feinstaubwerte sind vermutlich auf eine starke Zunahme der Automobilzulassungen zurückzuführen.
In den 1990er Jahren wurde die Lüneburger Innenstadt im Rahmen des Verkehrsentwicklungsplans (VEP) von einem Großteil des motorisierten Verkehrs befreit und in der Altstadt Fußgängerzonen eingerichtet. Seit 1994 ist Lüneburgs Innenstadt, abgesehen von Taxis und Linienbussen, autofrei. Außerdem wurde der Platz Am Sande verkehrsberuhigt und mit Kopfsteinpflaster versehen.
Die erste Fußgängerzone und die bis heute noch wichtigste ist die Große Bäckerstraße, welche im August 1968 umgewidmet wurde. Sie verläuft zwischen dem Platz Am Sande und dem Rathausmarkt und ist ca. 300 Meter lang.
Weiterlesen: https://www.luenepedia.de/wiki/Verkehrswende
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