Negativbeispiel: Bleckeder Landstraße stadtauswärts, Bushaltestelle Pulverweg Nord. Drei Verkehrswege im Vergleich: Gehweg, Radweg und Fahrbahn.

Bertram Weisshaar zum Fußverkehr: Die Verkehrswende beginnt im Kopf

Die Stadt wieder zum Lebens- und Begegnungsraum machen – darum geht es Landschaftsplaner und Spaziergangsforscher Bertram Weisshaar. Im Vortrag für das Verkehrswende-Bündnis Lüneburg am 2. November 2022 zeigte er, warum dazu genaues Hinschauen und Umdenken nötig ist. Sein Anliegen ist es, möglichst viele dazu einzuladen.


Mitteilung von: Lüneburg mobil 2030, Verkehrswende-Bündnis Lüneburg
Am: 5.11.2022
Foto: J. Korn. Verkehrsplanung als Leidensverteilung: Negativbeispiel Bleckeder Landstraße stadtauswärts, Bushaltestelle Pulverweg Nord. Drei Verkehrswege nebeneinander: Gehweg, Radweg und Fahrbahn. Manche bekommen bei der Verkehrsplanung mehr, andere weniger Leiden ab.


Die Verkehrswende beginnt im Kopf

Foto: Bleckeder Landstraße stadtauswärts, Bushaltestelle Pulverweg Nord. 

B. Weisshaar: Planungsskizze für den Detroiter Stadtteil Black Bottom 1956-1963.

L. Hilbersheimer: Planungsskizze für den Detroiter Stadtteil Black Bottom 1956-1963.

Neue Perspektiven eröffnete Spaziergangsforscher Bertram Weisshaar in seinem Vortrag am 2. November 2022. Sein Anliegen ist es, uns bewusst zu machen, wie sehr unsere Wahrnehmung vom Bestehenden geprägt ist – und wie das Bestehende entstanden ist.

“New City” – die autogerechte Stadt

Einer der Grundgedanken der Stadtentwicklung nach 1945 war, die Städte an das Auto anzupassen. Auch Vertreter der Design- und Architekturschule Bauhaus prägten unter dem Stichwort “New City” die Vision der autogerechten Stadt.

Deutlich wird dies beispielsweise in der Planung „Lafayette Park” von Ludwig Hilbersheimer für den Stadtteil „Black Bottom” in Detroit. Vergleichbare Vorhaben gab es in vielen deutschen Städten.

Die roten Linien zeigen die vormalige kleinteilige Bebauung – die schwarzen die neu geplanten Straßen. Diese Planung wurde dann auch umgesetzt: Die Häuser wurden abgerissen und 140.000 Menschen mussten den Stadtteil verlassen. In der neu gebauten Stadt bekam das Auto den Vorrang. Damals entstand ein Denken, das uns noch heute selbstverständlich erscheint.

Die Qualität des öffentlichen Raums wahrnehmen

Parken auf dem Gehweg: Kein Platz mehr zum Gehen, für Kinderwagen, zum Spielen - und Gefahr für Kinder, die plötzlich hinter den Autos hervorkommen. Foto: Bertram Weisshaar.

Bertram Weisshaar: Gehwegparken.

Auch sechs Jahrzehnte später dominiert der private Verkehr massiv den öffentlichen Raum. Menschliche Bedürfnisse wie freies Bewegen, Wohnen, Leben, Spielen, Erholen sind dem untergeordnet.

Wir nehmen die gegenwärtige Situation als “normal” wahr. Viele Autofahrende empfinden es als ihr “Recht”, überall parken zu können. Wie kann sich unser Bewusstsein ändern?

Die Spaziergangswissenschaft will wieder sichtbar machen, was wir gar nicht mehr wahrnehmen, weil es für uns so selbstverständlich ist: Wie der öffentliche Raum bei uns genutzt wird, wie wir uns im öffentlichen Raum bewegen – oder eben nicht (mehr) bewegen können.

Das Foto zeigt: Gehwegparken lässt keinen Platz mehr zum Gehen, für Kinderwagen, zum Spielen – und ist gefährlich für Kinder, die plötzlich hinter hohen Autos hervorkommen.

Verkehrsplanung als Leidensverteilung

Bertram Weisshaar: Planung als Leidensverteilung.

Bertram Weisshaar: Planung als Leidensverteilung.

Die geschichtliche Entwicklung lässt sich nicht von heute auf morgen rückgängig machen. Auch unabhängig davon gibt es keine “beste Lösung” in der Verkehrsplanung, zitiert Bertram Weisshaar Lucius Burkhardt, den Schweizer Soziologen und Begründer der Spaziergangswissenschaften: “Planung ist – Leidensverteilung.”

Man kann sich dessen bewusst werden und versuchen, die Verteilung etwas weniger ungerecht zu machen.

Das Foto zeigt ein Beispiel: Der ruhige Hof wird ausschließlich zum Parken genutzt. Praktisch für die Autobesitzer. Menschen und Familien, die um diesen Hinterhof wohnen, Kinder, Radfahrende sind schlecht weggekommen. Bei Hitzeperioden gibt es hier keine Abkühlung. Wie würde eine gerechtere Leidensverteilung aussehen?

Neue Zielorientierung: Nicht besseres Vorankommen, sondern bessere Qualität in der Nähe

Ziel ist ein Perspektivwechsel bei der Verkehrsplanung: Es geht nicht um besseres Durchkommen. Sondern Ziel muss sein, eine bessere Qualität in der Nähe zu erreichen – für die Menschen, die direkt in der betroffenen Straße leben und nicht für die, die nur möglichst ungehindert durchfahren wollen. Es geht darum, dass der öffentliche Raum neu aufgeteilt wird und wieder Lebens- und Begegnungsraum werden kann.

Möglichkeiten, die Wahrnehmung zu öffnen, sind z.B. Jane’s Walks (janeswalk.org) mit dem jährlichen Festival im Mai oder urbanize.at, das Wiener Festival für urbane Erkundung im Oktober, Spaziergänge zur Woche der Mobilität, mit Prominenten, zur Erkundung von Stadtgrün oder die akustische Erkundung von Stadtteilen.

All das hilft, die Qualität des öffentlichen Raums wahrzunehmen, gute und schlechte Beispiele zu finden und die Menschen mitzunehmen.

  • Der Vortrag als Video (WeChange): mehr

  • Mehr zum Thema:
    • “Talk Walks” mit Bertram Weisshaar bei YouTube:
      – Kassel: Umgestaltung der Goethestraße und Friedrich-Ebert-Straße. Verkehrsplaner Andreas Schmitz stellt die Veränderungen vor – mehr
      – Bensheim, Duisburg, Mainz, Schwetzingen und Speyer: Bessere Stadtplätze – zum Gehen, Queren, Verweilen – mehr
    • FUSS e.V.: Verkehrsrecht auf die Füße stellen. 66 Schritte zu fairen Regeln. PDF-Datei – mehr

Diskussion nach dem Vortrag: Gespräch suchen und dran bleiben

An den Vortrag schloss sich eine engagierte Diskussion an. Hier einige der Themen:

  • Inzwischen gibt es in einigen deutschen Städten Fußverkehrsbeauftragte, “Kümmerer” für den Fußverkehr. Wenn jemand die Verkehrsplanungen vor der Umsetzung noch einmal mit der Brille des Fußverkehrs prüft, bringt das wirklich etwas voran, so Weisshaar. Denn die Bedürfnisse der zu Fuß Gehenden fallen oft unter den Tisch.
  • Die 15-Minuten-Stadt will wichtige Angebote innerhalb von 15 Minuten erreichbar machen. Dazu gehören zum Beispiel Geschäfte für den täglichen Bedarf, Grundschule, Kindergarten, öffentliches Grün zum Erholen.
  • Kommunen und Bundesländer können in einer eigenen Stellplatzsatzung vorgeben, wie viele Pkw-Stellplätze pro Wohnung geschaffen werden. Die deutsche Stellplatzsatzung basiert auf der Reichsgaragenordnung von 1939, einem Grundstein für die autogerechten Stadt. Vielerorts wird die Zahl der zu schaffenden Stellplätze reduziert oder sogar auf Null gesetzt.
  • Und: Auch für öffentliche Grünflächen können Kommunen einen Mindestwert je Einwohner beschließen: 13 qm je Einwohner ist hierfür ein Richtwert.
  • Denkmalschutz als Hindernis für Verbesserungen: Das haben verschiedene Teilnehmende erlebt. In einem Beispiel verhinderte die Denkmalpflege in einem Gründerzeitquartier Gehwegnasen zum sicheren Überqueren von Kreuzungen. Begründung: Der Bürgersteig gehöre zum Denkmal-Ensemble und seinerzeit habe es solche Gehwegvorstreckungen nicht gegeben. Aber: Zur Gründerzeit gab es auch keine zugeparkten Straßen und keine schlecht einsehbaren Kreuzungen.
    Hilfreich, so Stimmen im Plenum, ist in dem Kontext Beharrlichkeit und konkretes Nachprüfen der Fakten, was hier wirklich geschützt ist. Ggf. könne auch bei der Kommunalaufsicht nachgefragt werden: So und so ist die Aussage – ist das tatsächlich so?
  • Man solle keine Front aufbauen zu den Ämtern bzw. Verwaltungen, mahnte Weisshaar schließlich an. Zwar seien Knowhow und Enthusiasmus für komfortableres und sichereres Gehen in verschiedenen Städten doch sehr unterschiedlich. Doch Kritik allein helfe nicht weiter. Man müsse das Gespräch suchen.
Zu Fuß unterwegs in der Stadt. Zeichnung: Karl Jilg, in Auftrag der Straßenverwaltung Schweden 2014.

Zu Fuß unterwegs in der Stadt. Zeichnung: Karl Jilg, in Auftrag der Straßenverwaltung Schweden 2014.

Veranstaltungsreihe “Lüneburg mobil 2030”

Lüneburg mobil 2030. Logo.

Lüneburg mobil 2030. Logo.

Bis 2030 klimaneutral zu sein – das hat sich die Hansestadt Lüneburg zum Ziel gesetzt. Wie gelingt das im Bereich Mobilität? Damit beschäftigt sich die Veranstaltungsreihe “Lüneburg mobil 2030” des Verkehrswende-Bündnis Lüneburg im Herbst und Winter 2022/23.

Die Veranstaltungen stellen Beispiele aus anderen Städten vor, bieten Hintergrundinformation und laden zur Diskussion ein.

Die Vortragsreihe versteht sich als Vorläufer für den Bundesweiten Umwelt- und Verkehrskongress BUVKO, die Fachtagung für nachhaltigen Verkehr. Dieser findet vom 31. März – 2. April 2023 in der Universität Lüneburg statt: https://buvko.de

Online-Veranstaltungen Lüneburg mobil 2030 – Nächste Veranstaltungen

  • Werkzeugkasten Fahrradstadt – Online-Veranstaltung am 23. November 2022
    Mittwoch, 23. November 2022, 19:00-20:00 Uhr
    Mit: Thiemo Graf, Radverkehrsexperte, Autor und Mitglied im Beirat Radverkehr im Bundesverkehrsministerium
  • Pünktlich, verfügbar und bequem. Öffentlicher Verkehr in der Schweiz.
    Donnerstag, 2. Februar 2023, 19:00-20:00 Uhr.
    Mit: Daniel Heer, Leiter Planung, Verkehrsverbund Luzern.
  • Radverkehr: Alles, was Recht ist
    Mittwoch, 15. Februar 2023, 19:00-20:00 Uhr
    Mit: Dr. Ralf Kaulen, Promotion bei Prof. Dr. Heiner Monheim, Inhaber des Stadt- und Verkehrsplanungsbüros Kaulen (SVK) für nachhaltigen Stadt- und Verkehrsplanung. Arbeitsschwerpunkt: Förderung des Fahrradverkehrs und der multimodalen Vernetzung der Verkehrsmittel des Umweltverbunds. Mitglied in einer Vielzahl von Fachgremien auf Bundes- und Landesebene, Moderator und Referent zu Themen der nachhaltigen Mobilität und Autor von ca. 50 Publikationen.

Lüneburg mobil 2030 – Veranstaltungen im Rückblick


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